Wissen rund um die Musik –
Der Universalcode der Musik

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Jetzt ist es bewiesen: Melodisch ausgedrückte Gefühle werden von allen Menschen auf der Welt ohne Vorbildung verstanden. Dass Musik für Verständigung sorgt, ist somit kein romantischer Mythos mehr, sondern eine Tatsache. Ist Musik vielleicht sogar die ideale Weltsprache?

Es gibt Menschen, die von Lady Gaga keine Ahnung haben. Die in ihrem ganzen Leben noch nie einen Radio oder Fernseher gesehen haben. Auch keinen Computer, und schon gar keinen MP3-Player. Jungfräuliche Ohren sozusagen, deren Reaktion auf westliche Musik ein Knüller für Musikforscher wäre. Nicht weil sie staunen oder kichern würden. Sondern weil sie darin dasselbe hören wie wir – das hat der Leipziger Kognitionswissenschaftler Thomas Fritz jetzt bewiesen. Eine Studie, die er beim isolierten Bergvolk der Mafa durchführte, zeigt: Auch Menschen ohne jegliche Vorkenntnisse sind in der Lage, in westlicher Musik die wichtigsten, darin ausgedrückten Gefühle zu erkennen. Zudem ähnelt ihr Klanggeschmack demjenigen westlicher Hörer. Lieder besitzen also Merkmale, die von Los Angeles bis Mikronesien ausnahmslos jeder interpretieren kann. Damit wird Musik erstmals wissenschaftlich als eine Art Universalsprache identifiziert.

Blickpunkt Kamerun, nördliches Mandaragebirge: Die Mafa sind ein Stamm, der wie seine Vorfahren naturverbunden und ohne Elektrizität lebt. Es dauerte einige Tage, bis Musikforscher Thomas Fritz das Vertrauen der Männer und Frauen gewann. Schließlich waren sie im Leben noch nicht einmal an einem Transistorradio vorbei gegangen, und auch nicht an einer Kirche, aus der sie christliche Lieder hätten hören können. Vor Fritz’ Tonbandgerät mit Kopfhörern fürchteten sie sich anfangs. Doch als das Eis gebrochen war, staunten die Forscher. „Die Mafa waren auf Anhieb in der Lage, die Gefühle in den westlichen Stücken zu entdecken, die wir ihnen vorspielten“, erzählt Fritz. In den computergenerierten Klaviermelodien, die er verwendete, sollten seine 21 Probanden Freude, Trauer oder Angst identifizieren. Ihren Tipp sollten sie dabei ausdrücken, indem sie auf eines von drei Fotos mit entsprechenden Gesichtsausdrücken deuteten. Sie lagen in rund 60 Prozent aller Fälle richtig, also doppelt so oft als wenn sie nur geraten hätten (33%). Fritz fand auch heraus, dass sie sich, wie westliche Hörer, bei ihrer Interpretation auf das Tempo der Stücke verließen, und auch intuitiv das Tongeschlecht Dur oder Moll erfassten. Wie wir deuteten sie Schnelligkeit und Dur als freudig, Langsamkeit als angsterfüllt oder traurig, und Moll als angsterfüllt. Zwar schlug sich eine deutsche Kontrollgruppe mit einer Trefferquote von über 80 Prozent besser. „Doch ich bin sicher, dass die Mafa noch sicherer interpretiert hätten, wenn der Versuchsaufbau sie nicht verunsichert hätte“, sagt Thomas Fritz. In einem zweiten Experiment spielte der Leipziger dann Mafa wie Deutschen harmonische Stücke und ihre disharmonisch verfremdeten Pendants vor, darunter sowohl westliche Musik als auch Stücke von Mafa-Flöten. Ergebnis: Beide Gruppen bevorzugten klar die Lieder, in denen keine Dissonanzen – also nach der klassischen Musiklehre Akkorde, in denen die Töne zu nahe bei einander liegen und sich „reiben“ – vorkamen.

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Tempo, Dur und Moll, Wohl- und Missklang sind also die Größen, nach denen Menschen grundsätzlich Musik erfassen. Bisher stritten sich Experten darüber, ob Musik bestimmten Zeit- und Tonregeln folgen muss, um als angenehm empfunden zu werden, oder ob, wie in der Zwölftonmusik, auch beliebige, mathematische Komponiersysteme funktionieren. „Doch nun ist die Mafa-Studie einer der wenigen Hinweise, dass es in der Musik wirklich universelle Regeln gibt“, sagt der Hannoveraner Musikphysiologe Eckart Altenmüller. Der Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikmedizin arbeitet gerade an einem Buch über Musikevolution und wundert sich nicht, dass jedem Menschen offenbar ein gewisser Musikverstand angeboren ist. „Menschen sind allein durch ihr Sprach- und Umweltgehör musikalisch“, sagt er. „Im Laufe der Jahrtausende haben sie gelernt, aus Stimmen und Geräuschen Stimmungen zu lesen, manche davon angenehmer zu finden als andere.“ Ein Beispiel: Ist unser Gegenüber aggressiv und knurrt, hat seine Stimme einen stärkeren Grad an Rauhigkeit – eine Dissonanz, die Gefahr bedeutet. Freut sich dagegen jemand, spricht er schnell und hell – eine atemlose Sequenz in Dur. Und wer traurig ist, schlägt langsame, abfallende Moll-Töne an. Die menschliche Kunst, Melodien zu lesen, muss uralt sein, denn laut Computertomografien werden beim Musikhören Teile des Stammhirns aktiv, die schon unsere reptilen Vorfahren lenkten. Auch dass Saurier ihre Angriffe in gleichmäßigen Rhythmen liefen, oder Wale in Strophen und Refrains singen, lässt ahnen, dass Musik bedeutend älter sein muss als Sprache. Und das nicht, obwohl sie scheinbar nutzlos ist, sondern genau deshalb. Sie könnte seit je der Fortpflanzung gedient haben: Vitale Männchen, die sich überflüssiges Gebaren leisten können, drücken durch Gesang und Rhythmen ihre Fitness vor Weibchen aus. Musik könnte aber auch ein Testprogramm für den wachsenden Verstand sein: Wichtige Fähigkeiten wie Sprechen erwarb der Mensch nicht über Nacht, sondern die dafür entwickelten Gehirnareale mussten sich über Jahrtausende mit Melodien und Rhythmen warmlaufen.

Musik und Sprache sind Geschwister. Das zeigt unter anderem die gemeinsame Zuständigkeit von Hirnarealen wie dem Gyrus Temporalis Superior und dem Broca-Areal. Nur, Musik ist mächtiger als Sprache. Das beginnt schon damit, dass Musik nicht übersetzt werden muss. Musik ist schneller: Schon ein einziger Fanfarenton bedeutet uns, dass es jetzt offiziell wird. Musik darf mehr: Worte, die Südstaaten-Sklaven einst die Peitsche einbrachten, blieben als gesungener Gospel ungestraft. Musik öffnet das Herz: Kompositionstricks wie Tempowechsel oder überraschende Stimmeinsätze verursachen Herzklopfen, Tränen, Lachen und Gänsehaut. „Wenn ein SS-Mann Musik hört, vor allem solche, die er besonders mag, beginnt er sich irgendwie in ein menschenähnliches Wesen zu verwandeln“, erzählte der jüdisch-polnische Komponist Szymon Laks aus seiner Gefangenschaft in Auschwitz. Und Musik kühlt die Gemüter: 2003 zähmte der britische Choreograf Royston Maldoom mit Strawinskys „Sacre du Printemps“ 250 beinharte Straßenkids. Die größte Macht, die Musik überhaupt entwickeln kann, ist aber ihre Wirkung auf Gruppen. „Sie weckt das kooperative Verhalten von Individuen“, weiß Eckart Altenmüller, „deshalb kann sie Massen mobilisieren.“ Man denke an die Wagner-Oper in der NS-Zeit, die das Bildungsbürgertum über die Kunst dem Nationalsozialismus einverleibte. Doch auch die Abschaffung der Apartheid in Südafrika ist ein Werk der Musik. Ohne das Lebenswerk von Bob Marley, Popfestivals für Nelson Mandela und Hits wie Eddie Grants „Gimme Hope, Joanna“ hätte sich in den USA und Europa keine geistige Verbundenheit zu den Unterdrückten aufgebaut, es wäre kein politischer Druck entstanden. „Durch Musik kann man sich mit den Rastafari verbunden fühlen, ohne je einen gesehen zu haben“, sagt Mafa-Forscher Thomas Fritz. „Für bestimmte Ethnien kann Musik und die Nutzung des weltweiten Medienflusses deshalb eine Chance sein, auf Missstände aufmerksam zu machen.“

Hat Musik also das Talent zum Allheilmittel? Es gibt auch kritische Stimmen. Experten wie der französische Musikethnologe Emmanuel Bigand sehen den Kunstcharakter von Musik missachtet, wenn sie nur auf ihre manipulativen Qualitäten reduziert wird. „Dass bestimmte Klänge Emotionen wecken, mag schon sein“, meint Bigand, „aber Musik ist mehr. Sie ist ein komplex strukturiertes Werk aus Spannung, Erwartungen und Überraschungen, mit denen der Hörer nur in Vibration treten kann, wenn er den kulturellen Hintergrund des Komponisten teilt.“ Sprich: Ein afrikanischer Bergbewohner könnte in Smetanas „Moldau“ beispielsweise das finale Pragmotiv nicht genießen, weil er es nicht erkennt .Musik kann folglich immer nur sehr schlichte Botschaften schicken. Das musste auch Thomas Fritz erfahren, als seine deutschen Probanden Mafa-Musik beurteilen sollten: Sie verstanden, anders als die Mafa in den westlichen Tönen, rein gar nichts. „In den Flötenliedern der Mafa spielen Gefühle keine Rolle“, erklärt Fritz, „sie betonen eher Ereignisse. Für Westler klingt das anfangs wie ein Autohupenkonzert. Erst als wir mehr über die Flöten und ihren Gebrauch bei Festen erklärten, erkannten die deutschen Hörer Strukturen in den Liedern. Dass Musik eine Universalsprache ist, kann ich daher nur bedingt bestätigen. Sie ist oft genug eine sehr spezialisierte Lokalsprache.“

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Jedoch: Musikalische Hintergründe lernen sich rasend schnell. „Schon Ungeborene bilden ab der 21. Schwangerschaftswoche ihr Musikgehör, ohne es zu merken“, erklärt Eckart Altenmüller. „Nach der Geburt geht das ständig weiter, durch zufälliges Hören in der Kirche, im Autoradio, unfreiwillige Beschallung auf dem Markt oder bewussten Musikgenuss. Diesem Lernprozess kann sich niemand verschließen. Darum hat jeder die grundsätzliche Kompetenz, jede Musik zu verstehen.“ Wer nicht taub ist oder an Amusie leidet, so Altenmüller, lerne automatisch, schon während er neue Klänge hört. Ob es diese grundsätzliche Fähigkeit, in Musik komplexe Zusammenhänge zu erkennen, wirklich gibt, interessierte natürlich auch Thomas Fritz brennend. Er lud daher die Mafa zu einem weiteren Experiment, bei dem sie Johann Sebastian Bachs „Réjouissance“, ein sehr festliches Stück, zu hören bekamen. Nach der Hörprobe sollten sie auf ein Tierbild deuten, das ihrer Meinung nach die Stimmung des Gehörten am besten wiedergab. Zunächst war der Unterschied zu den deutschen Hörern groß. Letztere hatten einhellig das Bild eines jubilierenden Vogels ausgewählt, die Mafa hingegen das eines Stiers. Nach ein paar Nachfragen kam jedoch heraus, dass die Bergbewohner jedes Jahr ein wichtiges Fest feiern, bei dem ein Stier im Mittelpunkt steht. Sie hatten also den festlichen Charakter der „Réjouissance“ auf Anhieb erkannt, nur eben mit ihrer eigenen Kultur in Verbindung gebracht.

Mit all diesem Wissen wird klar, dass der Siegeszug der Popmusik über den Globus nicht unbedingt der Musikindustrie und ihren Einhämmerungsmethoden zu verdanken ist, wie 1962 der Philosoph und Soziologe Theodor Adorno beklagte. Es sind vielmehr ein wacher Musikverstand und die Liebe zu neuen Gefühlserlebnissen, die Menschen rund um den Globus aufgeschlossen gegenüber neuen Tönen machen. Offenbar brauchen wir musikalische Abwechslung, und der internationale Austausch von Musik ist vorprogrammiert. „Das, was sich heute weltweit durchsetz, ist trotz einiger Penetranz in der Verbreitung nicht das Produkt einer westlichen Vormacht“, sagt Eckart Altenmüller, „sondern vereint Elemente aus vielen Gattungen aus aller Welt. Nehmen sie Mozarts ‚Allaturca’, die war schon im 18. Jahrhundert türkisch inspiriert. Sogar Wale haben schon zu Urzeiten ihre Gesänge getauscht.“ Gleichzeitig ist er auch, wie viele Fachleute, der Meinung, dass Hits von Lady Gaga und Michael Jackson lokalen Musiktraditionen nicht schaden. „Auf der einen Seite gibt es, so wie weltweit gültige Produkte, auch weltweit gültige Lieder“, erklärt er. „Doch auf der anderen Seite bleibt lokale Musiktradition bestehen, weil sie Identität und Zusammenhalt stiftet. Diese beiden musikalischen Sprachen existieren heute neben einander.“

Aber werden wir die kommunikativen Chancen einer neuen Weltmusik auch nutzen, statt uns von simplem Einheitsbrei einlullen zu lassen? Experte Altenmüller sieht es gelassen. Für ihn ist das anspruchsvoll erzogene Hörsystem des Menschen, wie es sich zuletzt wieder in der Mafa-Studie gezeigt hat, ein höchst beruhigender Faktor. „Eine globale Musikkultur, verbreitet durch Massenmedien, ist doch eigentlich ein riesiges, gesellschaftliches Gehörbildungsprojekt“, findet er, „das ist prima.“ Wann der Weltfrieden also auch kommt, er kommt mit guter Musik.

Buchtipp:
Musikpsychologie. Das neue Handbuch. rowohlt, 19,99 Euro
Exzellenter Überblick über die neurologischen und psychologischen Wirkungen von Musik, mit Beiträgen von vielen namhaften Musikforschern

Webweiser
www.cell.com/current-biology/supplemental/S0960-9822(09)00813-6
Detailinfos zur Mafa-Studie mit den Hörproben des Konsonanz-Dissonanz-Experiments

www.braintuning.fi/
Seite eines internationalen Forschungsprojekts zu Musik und Gefühlen

www.whalesong.info/?q=node/461
Walgesänge zum Anhören

Foto: sokaeiko  / pixelio.de

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3 Antworten

  1. Johanna sagt:

    Toller Artikel! Weiter so!

  2. Warum klingt Moll traurig?
    Die Strebetendenz-Theorie sagt, dass Musik nicht direkt Emotionen vermitteln kann, sondern nur Willensvorgänge, mit denen sich der Musikhörer identifiziert. Ein Beispiel: Bei einem Durakkord identifiziert sich der Höfer mit dem Willensinhalt „Ja, ich will!“, bei einem Mollakkord mit dem Willensinhalt „Ich will nicht mehr!“. Dieser Willensinhalt „Ich will nicht mehr!“ kann als traurig oder wütend erfahren werden, je nachdem ob ein Mollakkord leise oder laut gespielt wird. Wir unterscheiden hier genauso, wie wir unterscheiden würden, wenn jemand die Worte „ich will nicht mehr“ einmal leise flüstert und einmal laut herausschreit. Beim ersten Mal würden wir dieselben Worte als traurig, beim zweiten Mal als wütend erfahren. Beim Mollakkord ist das genauso: Ein leiser Mollakkord klingt traurig, ein lauter wütend. Auf ähnliche Weise lassen sich emotionale Charaktere anderer Harmonien herleiten, die in empirischen Studien bestätigt wurden. Weitere Informationen erhalten Sie über den Link „www.willimekmusic.de/musik-und-emotionen.pdf“.
    Bernd Willimek

  3. Bernd Willimek sagt:

    Ergänzend weise ich darauf hin, dass unser Buch „Musik und Emotionen. Studien zur Strebe-tendenz-Theorie“ aktuell unter ISBN: 978-3-86888-145-5 im Deutschen Wissenschafts-Verlag (DWV) erschienen ist.
    Es kostet 20 € und ist erhältlich über den Link
    https://dwv-net.de/produkt/musik-und-emotionen/
    Bernd Willimek

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